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Geburt von Romanfiguren

Wieder sehe ich ihn vor mir, wie er mir am Anfang des Romans erschienen ist. Er steht am Fenster und schaut über den Hof auf die Mauer des Wohnblocks gegenüber.
Das ist das Bild, aus dem er geboren ist. Wie ich schon gesagt habe, werden Romanpersonen nicht wie lebendige Menschen aus einem Mutterleib, sondern aus einer Situation, einem Satz, einer Metapher geboren, in deren Kern eine Möglichkeit des Menschen verborgen liegt, von der der Autor meint, dass sie noch nicht entdeckt oder dass noch nichts Wesentliches darüber gesagt worden sei.
Oder stimmt es, dass ein Autor nur über sich selbst reden kann?
[…]
Die Personen meines Romans sind meine eigenen Möglichkeiten, die sich nicht verwirklicht haben. Deshalb habe ich sie alle gleich gern, deshalb machen sie mir alle gleich Angst. Jede von ihnen hat eine Grenze überschritten, der ich selbst ausgewichen bin. Gerade diese unüberschrittene Grenze (die Grenze jenseits derer mein Ich endet) zieht mich an. Erst dahinter beginnt das große Geheimnis, nach dem der Roman fragt. Ein Roman ist nicht die Beichte eines Autors, sondern die Erforschung dessen, was das menschliche Leben bedeutet in der Falle, zu der die Welt geworden ist.

Milan Kundera in „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“

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1 Kommentar

  • Antworten Lila April 8, 2009 um 9:23 am

    Danke für dieses tolle Zitat!

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