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Tana French – Totengleich

Mit dem Spiegel vor Deinem Grab

Das ist sicher keine passende Einleitung für eine Buchbesprechung, aber ich komm nicht umhin Euch zu raten dieses Buch auf dem schnellsten Wege zu besorgen. Geht nicht über Los, zieht keine 400 Euro ein, lasst alles stehen und liegen und saust zu Eurem Buchhändler. Dieser Krimi wird Euch packen und auch nicht loslassen, nachdem die 784 Seiten in Rekordgeschwindigkeit durchgelesen worden sind.

Von Tana Frenchs Debütroman Grabesgrün war ich nur mäßig begeistert, nicht wegen der Qualität oder der Spannung, sondern weil das Ende mich enttäuschte.
Totengleich ist der Nachfolger, kann aber problemlos für sich gelesen werden. Der alte Fall ist abgeschlossen, es treten neue Figuren auf und sogar die Erzählerperspektive hat sich geändert.

Sams Augen waren riesig und dunkel, als hätte ich ihn geohrfeigt, und Frank betrachtete mich mit einem Blick, der mir, wenn ich auch nur halbwegs bei Verstand gewesen wäre, eigentlich hätte Angst einjagen müssen, aber ich spürte nur, wie sich jeder Muskel in mir lockerte, als wäre ich acht Jahre alt und würde an irgendeinem grünen Hang Rad schlagen, bis mir schwindelig wird, als könnte ich tausend Meilen weit durch kühles blaues Wasser tauchen, ohne einmal Luft holen zu müssen. Ich hatte recht gehabt: Freiheit roch nach Ozon und nach Gewittern und Schießpulver, alles zugleich, nach Schnee und Lagerfeuern und frisch gemähtem Gras, sie schmeckte nach Meerwasser und Orangen. (S.481)

totengleich Eine Frau, tot irgendwo in einem ausgestorbenen Cottage in der Pampa. Erstochen. Detective Cassie Maddox wird zu dem Fall hinzugezogen, obwohl sie nicht mehr im Morddezernat arbeitet. Die Begründung raubt ihr und allen Beteiligten den Atem. Das Mordopfer ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Eine Zwillingsschwester, von der sie nichts geahnt hat? Oder eine Doppelgängerin, wie sie angeblich jeder hat?
Doch damit nicht genug. Die erstochene Frau trägt eine Identität, die Cassie nur zu gut bekannt ist – hat sie diese doch selbst vor einigen Jahren erfunden, als sie noch als Undercover-Agentin arbeitete. Lexie Madison hat sich nicht nur den Namen geklaut, sie hatte sich mit Cassies Phantasieidentität auch ans College schummeln können.

Der Plan ist verrückt, und es dauert lange, ehe man Cassie überzeugen kann: Sie soll in ihre alte Rolle schlüpfen, Undercover arbeiten und zurück in das Leben der Toten marschieren, um ihren Mörder entlarven zu können.
Sie wird in ein altes ehemals prachtvolles Herrenhaus auf dem Land eingeschleust, wo Lexie mit 4 Studenten, einer Frau und drei Männern, zusammenlebte. Nach Aussagen von Mitstudenten sollen diese fünf eine Einheit gebildet haben, ein nach außen gesichtsloses Team voller Arroganz.
Aber Cassie merkt schnell, dass hinter den Fassaden große Träume stecken, viel Zärtlichkeit, Humor und Liebe. Sie findet die Familie, die sie nie hatte und gerät in einen Zwiespalt zwischen beruflicher Professionalität und Loyalität ihren Freunden gegenüber.
Aber sie darf nicht vergessen: Irgendwo lauert auch der Täter.
Und der hat(te) ein Motiv.

Typisch French!

Sieht man den Inhalt für sich, könnte man meinen sie habe die Story ziemlich an den Haaren herbei gezogen, und liest sich ob der Konstruktion und Unglaubwürdigkeit wie ein schlechter Groschenroman.
Aber weit gefehlt! Hier handelt es sich um Tana French, die Tana French. Die Grabesgrün-Kenner wissen, was ich meine.
Ihr Stil ist bildhaft und kräftig, Sprache, die mal mitten aus dem Leben gerissen wirkt, und dann wieder als lieblicher verträumter Chanson durch die Seiten schwingt.

Ihrem feinen Gespür entgeht nichts, gekonnt zeigt sie mit dem Finger auf das menschliche Miteinander, auf die Art, wie sie sich ansehen, wie sie kleine Worte sagen, die die Situationen greifbar machen. Sie hat es nicht nötig groß etwas zu erklären, menschliche Verhaltensweisen in endlosen Tiraden zu erklären. Ihr intelligenter Blick verfängt sich sofort zwischen entscheidende Details, die dem Leser vortäuschen nur unschuldig dahinzuplätschern, in Wirklichkeit aber Verständnis für eine ganz eigene Welt schaffen.

Ihre Figuren sind so lebendig, als würde man sie schon sein ganzes Leben lang kennen. Obwohl gleich fünf Studenten auf einmal vorgestellt werden, besteht nicht eine Minute lang Verwechslungsgefahr. Da gibt es Rafe, den Draufgänger, Daniel den Leitwolf, Justin, den Zarten und Sensiblen, Abby, die toughe Herbergsmutter und Lexie, die rotzfreche kleine Schwester. Sie sind ineinandergehakt, wie ein Zahnrad, bedingen sich gegenseitig, hängen so fest aneinander, und sind doch so unterschiedlich.

Der etwas andere Krimi

Es handelt sich um einen Krimi, ganz klar. Trotzdem möchte ich ihn auch allen Personen, die dieses Genre eher abschreckt, ans Herz legen – oder vielleicht genau deswegen.
Es geht hier um keine Mordserie. Man wird keine künstlich übertriebenen Ekelhaftigkeiten finden, keine widerlich ausgenommenen und vergewaltigten Frauenkörper keinen Psychopathen.
Es ist nicht der Mord an sich, der hier im Vordergrund steht, sondern die Frage, wie es dazu kam, und was dieser im Nachhinein mit den Menschen macht.
Man könnte diese Herangehensweise fast als herrlich erfrischend bezeichnen, würde dieser Roman mit seinem stets melancholischen Unterklang nicht so tief berühren.

Ich folge den winzigen Geräuschen Zimmer für Zimmer durchs Haus, verharre nach jedem Schritt, um zu lauschen, aber ich bin nie schnell genug: Sie entgleiten stets wie Trugbilder, hinter die nächste Tür oder weiter die Treppe hinauf. Ein spitziges Kichern, augenblicklich gedämpft, das Knarren von Holz. Ich lasse Kleiderschranktüren weit aufschwingen, ich nehme drei Stufen auf einmal, ich wirbele oben um den Treppenpfosten herum und erhasche aus dem Augenwinkeln noch eine rasche Bewegung: der fleckige alte Spiegel am Ende des Korridors, mein Gesicht darin, lachend. (S. 2)

Auf Spannung muss man deswegen natürlich nicht verzichten. So ein bisschen Grusel und Gänsehaut gehören ja schließlich dazu. Wir haben ein altes Herrenhaus, den dunklen Wald dahinter, eine Undercover-Agentin die immer nur ein Schritt davon entfernt ist sich zu verraten und/oder sich in Lebensgefahr zu begeben, und die ein Intuitives Prickeln, eine grauenhafte Vorahnung immer genau in den Momenten spürt, in denen sie irgendwo mutterseelenallein im Dunklen kauert.
Tana French ist Realistin, absolut rational. In diesem Roman wird kein Mord ist ihr Hobby gespielt, nichts unter den Tisch gekehrt. Wir leben in ihrer Protagonistin, spüren die Bedrohung, stellen die gleichen Fragen, erwischen uns dabei existentielle Fragen zu stellen und unser Leben aus anderen Perspektiven zu betrachten.

Die Stimmungsbeschreibungen

Teils natürlich durch Sprache, teils einfach, weil sie ein perfektes Gespür für Situationen hat, die glücklich machen, die Sehnsucht hervorrufen, die quälen
Das große Haus, fünf Leute, die herumalbern, die sich lieben, große Träume haben; gemeinsam singen, Wände streichen, Essen kochen, im Garten tanzen …
Natur, Licht und Schatten, die die Gesichter umspielen, der Wunsch nach Sicherheit, nach Familie, aufgefangen zu werde, mehr vom Leben zu bekommen, als einen stressigen Job und künstlich hervorgerufene Begierde nach Strandurlaub, iPods und immer noch mehr Geld

Lange Sommernachmittage im Gras, das Summen von Bienen und das gemächliche Quietschen der Schaukel. Im Kräutergarten knien und ernten, weicher Regen und Herbstrauch in der Luft, der Duft von geschnittenem Rosmarin und Lavendel an den Händen. Weihnachtsgeschenke auf dem Boden in Lexies Zimmer einpacken, Schneeflocken vor meinem Fenster, während Rafe auf dem Klavier spielt, Abby in ihrem Zimmer mitsingt und sich der Geruch von Lebkuchen unter meiner Tür hindurchwindet. (S. 480)

Man wünschte man wäre dort!
Man möchte sie vor dem drohenden Unheil bewahren, es anders, es richtig machen. Nur wie?

Da ist das Wissen, dass es funktionieren kann, das Paradies, das Leben in diesem herrlichen Kokon. Und wir haben die quälende Aufgabe mit ansehen zu müssen, wie einem alles entgleitet.

Fazit

Eine packende Story, spannend bis ins letzte Detail, psychologisch haarfein ausgearbeitet, ohne großartig auf Fachtermini zurückzugreifen. Mein Highlight in diesem Jahr. Macht nachdenklich, macht glücklich, macht traurig. Lesen!

5 Ratten


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6 Kommentare

  • Antworten Fleur Oktober 25, 2009 um 5:22 pm

    Ich war um das Buch schon ein wenig herumgeschlichen und habe es jetzt nach deiner Besprechung angefangen (bin soweit auf S. 144) und finde es bislang auch ganz wunderbar. Danke für den Tipp!

  • Antworten Lilly Oktober 26, 2009 um 3:53 pm

    Klasse!
    Ich freu mich zu hören, wie es Dir dann insgesamt gefallen hat 🙂

  • Antworten Fleur Oktober 29, 2009 um 4:02 pm

    Oh, wow, was für ein fantastisches Buch! Einfach fabelhaft – ich hätte gerne noch ein paar hundert Seiten länger mit den fünfen im Herrenhaus verbracht und kann mich deinen Worten: „Man wünschte man wäre dort! Man möchte sie vor dem drohenden Unheil bewahren, es anders, es richtig machen.“ nur voll und ganz anschließen.

  • Antworten Anne November 1, 2009 um 8:36 pm

    Ich überlege auch schon die ganze Zeit mir dieses Buch zu holen… aber ich glaube ich warte noch auf das Taschenbuch, auch wenn du mich mit deiner Rezension echt neugierig gemacht hast!!!
    LG Anne

  • Antworten Lilly Berry » Blog Archive » Tag 1: Das Buch, das du zurzeit liest Mai 14, 2010 um 12:45 am

    […] einmal so funktionieren. Aber dass es auch anders geht, hat Tana French bewiesen. Ich bin von ihrem letzten Roman so verwöhnt worden, dass ich wohl ziemlich anspruchsvoll geworden […]

  • Antworten Lilly Berry » Blog Archive » Tag 5 - Ein Buch, das du immer und immer wieder lesen könntest Mai 17, 2010 um 9:18 pm

    […] Buch, das ich erst einmal gelesen habe, aber immer und immer wieder lesen könnte, ist Tana Frenchs “Totengleich”. . Warum? Es ist ein Roman, der alles hat und vieles in den Schatten stellt. Es geht um Liebe, aber […]

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