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Stelle ein Buch vor! – Das Hotel New Hampshire

hamphire… egal welches, und begründe es dann. Das wünscht sich die Bücherwurm-Melli von ihren Lesern in ihrer neuen Blogparade.

Sich auf ein einziges Buch festzulegen ist gar nicht so einfach. Und ich denke genau darin liegt der Reiz dieser Aufgabe. Wenn man sich auch nicht auf ein Lieblingsbuch festlegen kann, ist es trotzdem interessant zu erfahren, welcher Roman nachhaltig beeindruckt hat.
Zumindest gehe ich davon aus, dass die meisten Beiträge sich um tolle, ja großartige Bücher handeln werden.

Was habe ich mir ausgesucht? Wer mich kennt, weiß, dass ich zu den Menschen gehörte, die ein Lieblingsbuch haben; eine unangefochtene Nummer eins:
Das Hotel New Hampshire. Und genau das nehme ich mir jetzt vor.

Worum geht’s?

Wer John Irving kennt, wird wissen wie ungeheuer schwer es ist eine Inhaltsbeschreibung zu seinen Bücher zu verfassen. Man möchte meinen er schreibt über alles, ohne den Zusatz und über nichts.
Seine Geschichten sind häufig Abhandlungen über Generationen und haben ihren Schwerpunkt eher in der Entwicklung einzelner Charaktere, als in einer runden Plotführung.
In diesem Roman geht es um Vergewaltigung, Tod, Prostitution, Terrorismus, Inzest, Schauspielerei, Suizid, Feminismus, Bären und auch um Schriftstellerei.
Das Hotel New Hampshire ist eine Familiengeschichte, die im Wandel der Zeit die Schrulligkeit und die Dämonen jeder Figur genau beleuchtet.

Im Sommer 1939 lernen sich Win Berry und Mary Bates im Hotel Arbuthnot by the sea, in welchem sie beide jobben, kennen. Sie verlieben sich ineinander und beschließen später selbst ein Hotel zu gründen.
Zusammen mit ihren Kindern – dem nirgendwo dazugehörenden Frank, der rotzfrechen Franny, dem Normalo und Erzähler der Geschichte John, der zwergwüchsigen Lilly und dem schwerhörigen Nesthäkchen Egg – leben sie in einer zum Hotel umgebauten alten Mädchenschule. Mit von der Partie ist auch der Großvater Iowa Bob und der unter Flatulenz leidende Hund Kummer.

Leben, beobachtet mit so viel Phantasie und phantastischer Vorstellungskraft, daß es einen magisch in den Buchstabenstrudel zieht. Wie wenn man im Kino nach einer amerikanischen Schnulze benommen sitzen bleibt und nicht will, daß sie einen in die Wirklichkeit entläßt, so klebt man nach 600 Seiten Irving an den letzten Silben fest und will die Figuren nicht ihrem Leben überlassen. Mit Irving war man in New Hampshire, Wien, New York – und kehrt zum Schluß wieder an den Ausgangsort zurück, man hat Zeiten durchstreift und Generationen überflogen – und fühlt sich wie zu Hause. Ist das vielleicht Kitsch? Nein, nur Seelenbalsam.(Tages-Anzeiger)

Keep passing the open windows

Halte dich von offenen Fenstern fern!, riet Iowa Bob jedem, der es hören wollte.
Was er damit meinte wird nie eindeutig erwähnt.
Man könnte meinen es ist eine Warnung an alle das Leben nicht herauszufordern, es einfach zu nehmen, wie es kommt und das Beste daraus zu machen.
Aber natürlich hält sich niemand daran.
Um ein wirklich florierenden Betrieb zu gründen, beschließen die Berrys nach Wien zu ziehen, wo der uralte Österreicher Freud, ein alter Freund von Mary und Win, inzwischen wieder lebt.
Und das Schicksal nimmt seinen Lauf …

Die tragische Komik

Immer wieder höre ich, dass John Irving von vielen Seiten als humorvoll bezeichnet wird.
Das sehe ich anders. Natürlich gibt es immer wieder Stellen, an denen man lachen oder grinsen muss, aber das erwarte ich eigentlich von jedem guten Roman.
Irvings Humor ist zu skurril, um wirklich witzig zu sein. Furzende Hunde, die den Namen Kummer tragen, zu klein gebliebene Kinder, eine Fehlgeburt im Glas und Frauen, die sich zu hässlich für die Welt fühlen und sich deswegen in einem Bärenkostüm verstecken, das ist Irvings Methode Tragik darzustellen.
Es ist seine unaufdringliche Art die Welt zu hinterfragen, ohne dass er dem Leser das gleiche aufzwingen will. Denn im Vordergrund steht immer nur eins: Entertainment.

Der große Gatsby und der Traum vom eigenen Hotel

hotelnewhampshire
Besonders beeindruckend finde ich, dass die Geschichte vom großen Gatsby mit eingeflochten wird. Nicht nur die wunderschönen Sätze, die die ganze Familie beeindruckt, sondern auch der Sinn.
Gatsby hat sich in den goldenen Zwanzigern ein Imperium aus Prunk und Glamour geschaffen. Er hat sich all das aufgebaut, um das ehrgeizige Ziel zu erreichen: seine Jugendliebe Daisy zurückzugewinnen, die ihn einst wegen seiner Armut abgelehnt hat.
Das ist sein Lebenssinn, sein Ziel, seine treibende Kraft.
Doch als er Daisy endlich wieder trifft, fällt ihm auf, dass er all die Jahre nur eine Illusion von ihr geliebt hat.
Für Win Berry ist Daisy gleichbedeutend mit seinem Traum vom Hotel. Er spürt noch immer das Gefühl, dass er damals als junger Mann im Arbuthnot by the sea erahnen konnte. Weiße Tischtücher, edel gekleidete Gäste, ein herrlicher Sommertag, das dicke Geschäft, der große amerikanische Traum.
Aber er merkt nicht, dass er von einer unrealen Sehnsucht getrieben wird, dass er einer Illusion, einem Gefühl nachjagt. Egal, wo er ankommt, die Realität ist blasser, als seine Träume. Oder, so hat die Familie es immer gesagt: Kummer schwimmt obenauf.

Denn selbst nachdem der alte Familienhund verstarb, war er als ausgestopfte Parodie seines lebendigen Abbilds immer mit von der Partie. Kummer hat die Familie immer begleitet. In zweierlei Hinsicht.

Poesie, oder die Geschichte von Lilly Berry

Seine poetische Ader hat Irving an der kleinen feenhaften Lilly ausgelassen. Lilly ist ab einem bestimmten Alter einfach nicht mehr gewachsen. Sie hat die Welt immer aus einer anderen Perspektive gesehen.
Schon als Kind hat sie sich oft zurückgezogen, um zu schreiben. Sie nannte es Wachstumsversuche.
Ihre bzw. Irvings Gedichte fand ich einfach wunderbar:

Du würdest mich nicht erkennen.
Mein Gesicht ist es, das aufblüht
In den feuchtkalten Spiegeln von Toiletten,
wenn du nach dem Lichtschalter tastest.
Meine Augen haben den Ausdruck
Der kalten Augen von Statuen,
Die zusehen, wie ihre Tauben zurückkehren
Von dem Futter, das du überall verstreut hast.

Der große Gatsby hat sie zum Schreiben inspiriert, er hat sie erkennen lassen, dass ihr Dad nur für eine Illusion lebt, und letztendlich hat er sie mit seinen wunderschönen Sätzen auch in die Knie gezwungen.
Tut mir leid. Einfach nicht groß genug, schrieb sie eines Tages auf einen Zettel …
… und hielt sich nicht vom offenen Fenster fern.

Spannung

Bei so umfangreichen Büchern ist es natürlich schwer eine geradlinige Spannung aufkeimen zu lassen – besonders weil so viele Personen im Blickfeld stehen.
Was erzeugt Spannung über Jahre hinweg? Ja richtig, Liebe.
Die Gefühle, die der Erzähler John zu seiner Schwester hat, hat das Buch nicht nur zu einem schwer-melancholisch und tragikomischen Werk gemacht, sondern zu einem richtigen Pageturner. Geschwisterliebe der anderen Art. Kann das gut gehen?

Warum mein Liebling?

Irving schreibt Märchen für Erwachsene. Märchen, die unwirklich und weit weg wirken, die aber nichts mit Drachen und rosa Zuckerwolken gemeinsam haben. Er deutet an, beschreibt das, was man sonst nicht in dieser Art wahrnimmt, er geht unkonventionelle Wege und thematisiert das Phantom in jedem von uns.
Er lässt uns sehen und verstehen, ohne dass er mit dem Finger drauf zeigt.

Zu erklären, warum ich dieses Buch zu liebe, ist genauso schwer zu erklären warum man einen bestimmten Mann und keinen anderen liebt.
Man kann alles aufzählen, was einem gefällt und die nächste Person nimmt genau die Aspekte und sagt, warum sie ihn nicht begeistern konnten.
Es ist das Gefühl, was wichtig ist. Sich in einem Buch zuhause zu fühlen, zu spüren, dass das Herz schneller klopft, weil man etwas zu wunderschön findet und Gänsehaut zu bekommen, weil man eine Wahrheit für sich erkannt hat – das ist entscheidend. Und damit hat das Hotel bei mir genau ins Schwarze getroffen.

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4 Kommentare

  • Antworten www.kirstenmarohn.de Juli 26, 2009 um 9:36 am

    Ich konnte mit diesem Buch leider gar nichts anfangen. Ich habe wahrscheinlich einen Sinn gesucht, wo es keinen gab. Für mich war die Geschichte (?), eine bunte aneinander Reihung von kursiosen Erlebnissen, die aber für mich keinen Zusammenhang ergaben. Ich finde es übrigens interessant, wie du in dem Artikel über Kinderbücher erwähnst, was in dir Unbehagen auslöst – Knopfaugen, Figuren aus Wachs, herumwandelndes Spielzeug, Hunde und ein Katzenfreund -, hingegen die Kuriositäten aus „Hotel Hampshire“ zu deinen Lieblingen zählst. Sachen wie unheimlich klingende Sätze „Halte dich von offenen Fenstern fern!“, die immer wieder ohne Erklärung auftauchen, ausgestopfte Familienhunde, furzende Hunde, die den Namen Kummer tragen, zu klein gebliebene Kinder, eine Fehlgeburt im Glas und Frauen, die sich zu hässlich für die Welt fühlen und sich deswegen in ein Bärenkostüm stecken – all das ist mir persönlich eine Form zu schrullig und bereitet mir Unbehagen. Ich habe das Buch mit einer gehörigen Portion Unbehagen zur Seite gelegt, die sich auch heute noch regt, jedes Mal, wenn ich den Namen John Irving höre. Roald Dahls „Charlie und die Schokoladenfabrik“ fand ich in der Verfilmung sehr schön, doch auch hier hatte ich stets ein ungutes Gefühl von hintergründigem Grauem, das ähnlich wie bei dem Film „Hexen, Hexen“ einem das Filmvergnügen zunichte machte. Das lag wohl auch an seltsam umherwandelnden Figuren und abstrakten Gebilden, die hier und da ohne Erklärung auftauchten und einen gruseln ließen.

  • Antworten Lilly Juli 27, 2009 um 10:38 pm

    Das hintergründige Grauen. Genau das ist es. Du hast auf den Punkt gebracht, was ich bei Coraline mit vielen Worten erklären wollte.

    Bei Irving habe ich davon aber absolut überhaupt nichts gemerkt.
    Alle Symbole die er verwendet hat, habe ich nur in poetischer Hinsicht gesehen.
    Er schreibt ja auch Lebensgeschichten und kein Horror. Und natürlich sind seine Stories in keinster Weise für Kinder gedacht.

    Ich finde seine Romane ähneln Kurzgeschichten. Nicht, weil sie kurz sind, nein, sie sind das absolute Gegenteil, sondern weil er genug Interpretationsspielraum lässt und die Handlung in kein strenges Korsett steckt.

    Das mag aber natürlich nicht jeder. Ich glaube beim Irving gibt es sowas wie ein Mittelding garnicht- man liebt oder hasst ihn.
    Aber ich finde, dass das alle großen Künstler auszeichnet.

  • Antworten Hendrik August 11, 2009 um 6:31 pm

    Hallo & danke für die sehr spezifischen Eindrücke, mit denen Du eine schöne Fassung für das Lesevergnügen eines Deiner Lieblingsbücher gefunden hast – als ob die Handlung immer das Wichtigste an einem Buch wäre, tztztz … Ich selbst bin damals an Hotel New Hampshire gescheitert, vielleicht weil ich zuviel Irving hintereinanderweg gelesen hatte und das Maß erst einmal ausgefüllt war, womöglich auch, weil ich das Buch, das für Dich Hotel New Hampshire ist, z.B. schon bei John Crowley gefunden hatte (Little Big, oder Das Parlament der Feen), teilweise auch bei Peter Carey (Illywhacker). An dieser Art von Buch (sofern sich das gruppieren lässt) lese ich mich irgendwann müde, weil ich zwar vielleicht den Stil mag, aber keine große Vorliebe für Familiengeschichten habe. Ich finde es jedenfalls schön, wenn jemand nicht nur eine so spezifische sinnliche Affinität zu bestimmten Werken / AutorInnen verspürt, sondern diese auch beschreiben kann. Als ich noch im Buchhandel war, war ich immer wieder erstaunt, wie selten Leute tatsächlich sagen können, warum genau ihnen ein Buch gefallen / nicht gefallen hat. Beste Grüße & weiterhin viele schöne Lesestunden wünscht der Pengoblin (Hendrik)

  • Antworten Lilly Berry » Blog Archive » Tag 3 – Dein Lieblingsbuch Mai 16, 2010 um 8:49 pm

    […] allem, worum es geht, habe ich im letzten Jahr ganz ausführlich abgehandelt. Das kann man alles hier nachlesen, falls Interesse besteht. Falls nicht, gibt es hier die Kurzversion: Irving schreibt […]

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